Arzneimittelknappheit scheint ein plötzlich auftretendes Phänomen zu sein, ist es aber nicht. Tatsächlich wissen die Pharmabranche und die Verantwortlichen in den Gesundheitssystemen zahlreicher Länder seit Jahren um die Fragilität der Medikamenten-Versorgung. „Lieferengpässe bei Arzneimitteln nahmen in den letzten Jahren massiv zu“, analysierte das Institut für Höhere Studien (IHS) bereits 2019 in seiner Studie „Lieferengpässe bei Arzneimitteln – Ein globales Problem mit nationalen Folgen“.

Hierzulande wurden die Systemmängel in der Vorweihnachtszeit evident, als plötzlich Antibiotika und Schmerzmittel fehlten. Spätestens da stellte man sich auch in der Öffentlichkeit die Frage, wie es so weit kommen konnte. Eine Erklärung war schnell gefunden: Das zeitgleiche Auftreten von Grippe-, Corona-, RS-Viren sowie die für die Saison üblichen Erkältungen ließen den Bedarf sprunghaft ansteigen. Damit waren die Vorräte in Apotheken und bei Großhändlern rasch erschöpft.

Aber wir funktioniert die Bevorratung hierzulande? Auf Nachfrage der „Wiener Zeitung“ heißt es vom Branchenverband der pharmazeutischen Industrie (Pharmig), dass es gesetzliche Vorgaben zur Bevorratung von Medikamenten gebe. Hersteller und Depositeure unterhalten Lager, die für drei bis vier Monate vorhalten. Durch zusätzliche Ware bei Großhandel, Apotheken und Krankenhaus-Apotheken sei ein Lagerbestand von insgesamt circa sechs Monaten vorhanden, erklärt man. Diese Lagerhaltung basiere „auf Vergangenheitsdaten und Bedarfsprognosen“. Die jüngste Krankheitswelle hatte allerdings sämtliche Prognosen übertroffen.

Fragile Lieferketten

Sind die Vorräte einmal erschöpft, ist ein solcher Engpass nicht leicht auszugleichen. Denn Arzneimittel kommen teils vom anderen Ende der Welt nach Österreich. Womit man bei der Lieferkettenproblematik wäre. Viele Wirkstoffe in europäischen Medikamenten stammen aus dem asiatischen Raum. Dort können sie günstiger produziert werden. Hinzu kommt noch, dass diese von nur wenigen Hersteller für die halbe Welt produziert werden.

Fällt einer dieser Hersteller aus, etwa durch Anlagendefekte, Rohstoffprobleme oder Qualitätsmängel, hat das globale Folgen, analysiert das IHS und führt aus: Verantwortlich für die Auslagerungen der Produktion in Länder mit günstigeren Rahmenbedingungen wie China und Indien seien steigender Kostendruck und steigende Qualitätsanforderungen. Diese Faktoren sind allerdings hausgemacht, sind es doch Vorgaben, die in Österreich und der EU formuliert werden.

Holen wir die Medikamentenproduktion eben nach Europa zurück, heißt es dazu vonseiten der Politik. Doch so einfach ist das nicht, denn zunächst müsste man die Kostenfrage lösen: Will man für jedermann erschwingliche Medikamente in Europa produzieren, muss man erst die Schere zwischen der hier teureren Produktion und den günstig anzubietenden Medikamenten schließen. Dafür müsste man Gelder aus der öffentlichen Hand zuschießen, ob für Forschung und Entwicklung, für Produktion oder beim Verkaufspreis. Gerade diese öffentlichen Gelder sind aber knapp und werden künftig noch knapper werden. Immerhin müssen sich die Gesundheitssysteme, nicht nur in Österreich, auf eine alternde Bevölkerung einstellen, die mehr Zuwendungen aus genau diesen Geldtöpfen benötigt.

Zudem, wie man am Beispiel des Tiroler Standortes von Novartis/Sandoz sieht, ist derzeit kaum absehbar, wie viel das kosten würde. Die explodierenden Energiekosten machen nämlich auch der letzten in Europa verbliebenen Produktion von Antibiotika zu schaffen. Bereits im September dachte man dort über Produktionskürzungen nach. Von 10 bis 15 Millionen Euro 2021 seien die Kosten auf 100 bis 120 Millionen Euro angestiegen, rechnete man den Medien vor. Zuvor hatte Sandoz millionenschwere Investitionen in neue Anlagen am Tiroler Standort vorgenommen, auch von der öffentlichen Hand waren erhebliche Förderungen gekommen.

Der Preis ist heiß

Die Pharmaindustrie fordert nun, die Medikamentenpreise an die Inflation anzupassen. „Schmerzmittel und Antibiotika kosten teilweise weniger als eine Wurstsemmel“, so Pharmig-Chef Herzog am Montag. „Preise, die 10, 20 Jahre gleich bleiben, das funktioniert nicht.“ Die Antwort aus den Reihen der Sozialversicherungen erfolgte umgehend: „Wenn ein Produkt nicht verfügbar ist, dann wird es nicht verfügbar, wenn es teurer wird“, so Peter Lehner, Vorsitzender der Konferenz der Sozialversicherungsträger im Ö1-Morgenjournal am Dienstag. Er warf der Branche vor, ihre Gewinne maximieren zu wollen. Hintergrund der Debatte sind die rigiden Bestimmungen, was Medikamente kosten dürfen.

Auf WZ-Nachfrage bei Pharmig erklärt man, dass die Preise zwischen den Herstellern und der Preiskommission festgelegt würden. Dabei handele es sich um jene Produkte, die im sogenannten „Erstattungskodex“ gelistet sind, also in Apotheken gegen Rezept oder auch ohne erhältlich seien. Nachsatz: „Sobald man sich hier auf einen Preis geeinigt hat und das Produkt in den Erstattungskodex aufgenommen wurde, dreht sich die Preisspirale, wenn überhaupt, nur nach unten.“ Dann sei der Preis „so gut wie eingefroren und muss jedenfalls unter dem EU-Durchschnitt liegen“. Man rechnet vor: Hat eine fiktive Arzneimittelpackung im Jahr 1996 noch 10 Euro gekostet, so kostete sie 2021 nur mehr 6,17 Euro.“

Laut Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) sind aktuell über 600 Medikamente in Österreich als nicht oder nur eingeschränkt verfügbar gelistet. Lösungen hierfür wird man nicht nur auf nationaler, sondern auch auf EU-Ebene finden müssen. Seit die EU 2020, getrieben durch die Erkenntnisse der Pandemie, ihre „Arzneimittelstrategie“ präsentierte, hat man davon allerdings nichts Substanzielles mehr gehört.

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